Kastration - ja oder nein?


Diese Frage haben Sie sich als Hundehalter bestimmt auch schon gestellt! Als
Entscheidungshilfe möchten ich Ihnen diesen Artikel von Frau Dr. Niepel, der auf den Ergebnissen ihrer Bielefelder Kastrationsstudie basiert, ans Herz legen. Bei weitergehendem Interesse empfehlen wir Ihnen „Kastration beim Hund. Chancen und Risiken – eine Entscheidungshilfe“ von Gabriele Niepel, erschienen im Kosmos Verlag 2007. „Wer allen Ernstes behauptet, dass eine unkontrollierbare Fortpflanzung nur durch Kastration zu verhindern sei, der muss sich die Frage stellen, wie viel er von Hundehaltung und Hundeverhalten versteht. Die Kastration bedeutet eine Amputation und steht, vom Gesetz
hergesehen, damit in einer Reihe mit dem Kupieren von Ohren und Ruten.
Die Rechtmäßigkeit von Kastrationen müssen im Einzelfall Gerichte
prüfen. Tierschutzgesetz §5 - Verboten ist das vollständige oder teilweise
Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise
Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines
Wirbeltieres. Hündinnen kastrieren lassen - ja oder nein? Diese Frage ist eher mit "Nein" zu beantworten, wenn der Wunsch nach Verhaltenskorrektur einer aggressiven Hündin besteht (es sei denn, diese Aggressivität tritt ausschließlich und in unverhältnismäßigem Ausmaß nur in der Zeit der Läufigkeit / der Scheinschwangerschaft auf). Ansonsten istdie Kastration nicht nur nicht erfolgreich im Sinne einer Aggressionsminderung, sondern geradezu kontraproduktiv, die Hündin ruhiger oder im Gegensatz aktiver werden soll: Auswirkungen sind einfach nicht vorherzusagen, man kann das genaue Gegenteil von dem erzielen, was man eigentlich erreichen wollte,
die Prophylaxe gegen Mammatumoren das entscheidende Argument sein
soll: Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung daran rechtfertigt das
Inkaufnehmen anderer gesundheitlicher Risiken nicht. Eine Risikominimierung besteht relevant nur bei Frühkastration, doch die Kastration vor der Geschlechtsreife birgt zu viele Risiken, der Halter einfach weniger Unannehmlichkeiten in der Zeit der Läufigkeithaben will (Ausnahme: Hündin teilt sich den Haushalt mit unkastriertem Rüden), wenn er ungestört Urlaub machen oder wenn er mit seiner Hündin nicht im Hundesport aussetzen will. Abgesehen von der ethischen Berechtigung dieser egoistischen Gründe wird eine Kastration aus diesen Gründen vom Tierschutzgesetz auch nicht gedeckt,
die Kastration als der einzige Weg zur Vermeidung ungewollter
Trächtigkeit gesehen wird (Ausnahme: ein "intakter" Rüde im Haushalt; in
dem Fall ist jedoch zu prüfen, ob nicht eher die Kastration des Rüden als
jene der Hündin anzuraten ist).Diese Frage ist eher mit einem "Ja" zu beantworten: bei Akuterkrankungen der Geschlechtsorgane, bei Diabetes mellitus und hormonell bedingten Ohrenerkrankungen (bei denen eine Allergie gegen Geschlechtshormone der Auslöser ist, kommt selten vor), bei
wiederholten, ausgeprägten Scheinschwangerschaften der Hündin, die mit
starkem Leidensdruck für diese einhergehen, bei extremem Aggressionsverhalten während der Zeit der Läufigkeit und
anschließender Scheinschwangerschaft, bei Hündinnen, die das ganze Jahr so attraktiv riechen, dass sie permanent von Rüden belästigt werden und darunter leiden. Die Kastration ist immer noch unschädlicher für die Hündin als die Praxis der Läufigkeitsunterdrückung durch Hormonspritzen, da diese extrem krebserregend sind und häufig Gebärmutterentzündung verursachen.
Gedanken zur Frühkastration der Hündin Der gegenwärtig zu beobachtende Trend der Frühkastration von Hündinnen muss als besorgniserregend betrachtet werden. Nicht nur, weil solche Hündinnen nie richtig erwachsen werden können und den Schub Richtung reifen Erwachsenenverhaltens, der in der Pubertät ansteht, nicht bekommen, sondern auch aus handfesten medizinischen Gründen. Wer allein wegen der Unannehmlichkeiten in der Läufigkeit seine Hündin kastrieren lässt, dem ist erstens zu entgegnen, dass er sich tierschutzwidrig verhält, und zweitens, dass er mit einem Stoffhund wohl
besser beraten wäre. Zum Lebewesen Hund gehören auch sein
geschlechtsspezifisches Verhalten, die Stimmungsschwankungen bei
hormonellen Veränderungen und seine Veränderung im Wesen, wenn er
pubertiert und langsam erwachsen wird. Wer diesen Weg nicht mit seiner
Hündin mitgehen will - der sollte auf das Halten eines Hundes besser
verzichten. Oberstes Entscheidungsprinzip in der, Frage der Kastration
sollte das Wohl des Hundes sein. In jedem Einzelfall ist zu klären, ob eine
Kastration vielleicht angebracht wäre. Nur eine feste Regel kann man
Hündinnenbesitzer an die Hand geben: Wenn Sie kastrieren lassen wollen
- bitte warten Sie ab, bis Ihre Hündin das erste Mal läufig gewesen ist,
und danach noch gute zwei Monate mit der Operation. Rüden kastrieren lassen - ja oder nein?
Eine Kastration kann angezeigt sein:
bei körperlichen Erkrankungen wie Hodentumoren, Analtumoren,
Prostataerkrankungen, Kryptorchismus, persistierende (nicht ausheilende)
Vorhautentzündung, bei Rüden, die ständig aufgeregt und kaum ansprechbar sind, weil sie nicht nur auf wirklich läufige bzw. auf Hündinnen reagieren, die ihre Stehtage haben, sondern von jedem "Rockschoß" magisch angezogen
werden, das Futter verweigern, nur noch jammern, nächtelang jaulen, an
der Leine nicht mehr zu bändigen sind und nach dem Ableinen sofort auf
und davon sind. Diesen Rüden kann/sollte man ihr Dasein mittels
Kastration erleichtern. Die Chance, dass sie ausgeglichen werden, ist groß.
Aber auch hier gilt es, nach der Verhältnismäßigkeit zu fragen: Wenn ein
Rüde auf dem Spaziergang direkten Kontakt mit einer hochläufigen
Hündin hat und von der nur noch durch Anleinen wegzubekommen ist, so
kann man kaum von Hypersexualität sprechen, die eine Kastration
erfordert. Wenn ein Rüde im Erziehungskurs unkonzentrierter arbeitet,
weil eine Hündin nach einem dreiwöchigen Aussetzen wegen Läufigkeit
wieder mitmacht, so ist das auch noch kein Indiz für einen übersteigerten
Sexualtrieb des Rüden. Läuft der Rüde im selben Kurs jedoch nahezu
andauernd mit ausgefahrenem Penis herum, hechelt unablässig, stiert den
`Mädels` nach und nutzt jede ihm sich bietende Gelegenheit, die - nicht
läufigen - Hündinnen zu belästigen, so sollte man über eine Kastration
nachdenken. Und zwar nicht, weil man selber einfach genervt ist, sondern
weil in diesem Fall davon auszugehen ist, dass der Rüde wirklich
Leidensdruck hat. Man sollte jedoch nicht erwarten, dass sich das
Verhalten sofort gibt. Hopkins u.a. (1976) haben in ihrer Studie
herausgefunden, dass im Falle der Rüden, bei denen die gewünschte
Veränderung eintrat, sich diese Veränderung nur bei der Hälfte bald nach
der Kastration zeigte, bei der anderen Hälfte kam es zu einer
schrittweisen Abnahme über die Zeit hinweg. Bedenkt man, dass der
Testosteronspiegel innerhalb von sechs bis acht Stunden nach der
Kastration auf kaum noch messbare Werte sinkt (Hart / Hart, 1991), so
wird allein daran deutlich, dass Testosteron offenbar nicht die alleinige
Einflussgröße auf das Verhalten der Rüden ist! Anzumerken ist noch, ob sich Züchter nicht vielleicht einmal Gedanken darüber machen sollten, ob es nicht auch ein Zuchtziel sein sollte, Rüden mit normalem, statt hypersexuellem Verhalten zu züchten. Angesichts des Leidensdrucks, den solch hypersexuelle Rüden haben, müsste schon aus der Verantwortung für die Hunde auch auf diese Verhaltenskomponente in der Zucht Rücksicht genommen werden.
Eine sehr hohe Erfolgsquote zeitigt die Kastration bei Streunern, jedoch ist
ein Erfolg nur dann zu erwarten, wenn der Hund auf "Freiersfüßen"
wandelt - und nicht weil er sich langweilt oder einfach die Komposthaufen
der Nachbarn inspizieren oder Kaninchen auf dem nahe gelegenem
Kohlfeld jagen will. Wenn ein extremes Aufreiten bei Hunden und/oder Menschen zu verzeichnen ist, insbesondere nach Eintritt der Geschlechtsreife, stehen die Chancen gut, dieses Verhalten zumindest zu vermindern. Allerdings
sollte man schon sehr genau hinschauen, ob sich der Rüde "nur" sexuell
abreagiert oder ob es sich um eine gezielte Geste seinem Menschen gegenüber handelt, wenn der Rüde vor allem bei seinem Besitzer aufreitet. Da sind Korrekturen in der Mensch-Hund-Beziehung eher angebracht als das ausschließliche Verfolgen der "medizinischen Lösung" Urinmarkieren im Haus kann durch eine Kastration günstig beeinflusstwerden weniger das Markieren im Freien. Bei Rangordnungsauseinandersetzungen zwischen zwei "intakten"
Rüden,die im gleichen Haushalt leben, ist die Kastration oft das letzte
Mittel, um ein weiteres Zusammenleben zu ermöglichen. Voraussetzung
ist aber, dass man den richtigen kastriert, also den, der nach reiflicher
Beobachtung und Erwägung aller Fakten als jener eingeschätzt werden
kann, der eher für die nachrangige Position taugt. Kastriert man den
mental und physisch stärkeren, wird die Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit eskalieren. Parallel muss in der ersten Zeit nach der
Kastration auch eine Verhaltenstherapie durchgeführt werden.
Wann ist eine Kastration nicht anzuraten? Folgende geschlechtsunabhängige Verhaltensweisen sind mittels Kastration nicht zu beeinflussen: Angstaggression, Jagen, Wachsamkeit. Wen die Wachsamkeit seines Rüden stört, dem wird durch eine Kastration auch nicht geholfen. Bei aggressivem Verhalten gegen andere Hunde, das aus Angst geboren ist, ist nicht nur keine positive Veränderung zu erwarten, weil dieses Verhalten nicht unter Einfluss von Geschlechtshormonen steht. Zu befürchten ist gar eine Verschlimmerung, da nach einer Kastration eine Reihe von Hunden auch verunsichertes Verhalten zeigt, somit die Ursache der Aggression auch noch verstärkt wird. Wer aus der Praxis weiß, dass die meisten der vorgestellten Aggressionsfälle Hunde sind, deren Aggression auf Verunsicherung und Angst zurückzuführen ist, der wird
sehr vorsichtig mit dem Vorschlag einer Kastration sein. Ratschläge, nach denen bei "Dominanzaggression" der Hund als erstes zu kastrieren sei, danach könne man sich an die Umerziehung machen, sind mit Vorsicht zu genießen, Denn: Erstens ist nur in wenigen Fällen eine verminderte Aggression gegen Familienmitglieder zu sehen, was auch kein Wunder ist: Ist die Aggression angstbedingt, kann sich nichts zum Positiven verändern. Hat man es tatsächlich mit einem Dominanzproblem zu tun, geht es primär um das Beziehungsgefüge Hund/Halter und nicht um die Hormone des Hundes. Zweitens: Häufig wiegen sich die Halter in falscher Sicherheit, meinen, mit der Kastration laufe automatisch dann schon alles in den richtigen Bahnen und man müsse sich nicht mehr an die anstrengende Aufgabe machen, sein eigenes Verhalten so zu verändern, dass der Hund neu ins Familienrudel eingefügt wird. Diese Einstellung kann dann natürlich fatale Folgen haben. Das geschlechtsspezifische Verhalten eines Rüden führt nicht notwendig
zu Problemen für sie selbst, für andere Hunde und/oder für ihre Besitzer.
Werden sie einfach kastriert, weil man die geschlechtstypischen, sich im
normalen Rahmen abspielenden Verhaltensweisen eben lästig findet, ist
das ein überflüssiger und damit tierschutzrelevanter Eingriff.
Kastration macht dick und träge Bei Rüden wie Hündinnen bleibt die Antwort auf die Frage, ob eine Kastration mit hoher Wahrscheinlichkeit dick macht, unentschieden. Zusammengefasst kann man wohl nur folgendes festhalten: Es scheint so, dass nahezu die Hälfte der kastrierten Hunde mehr Hunger entwickeln. Wenn dem entsprochen wird, ist der Weg zur Gewichtszunahme nicht
mehr weit. Aber auch ein direkter Einfluss der veränderten hormonellen
Situation auf das Stoffwechselgeschehen ist denkbar- dafür spricht die
Erfahrung mit vielen Hundehaltern, die ihre kastrierten Hunde sogar
reduziert füttern und deren Hunde denn och an Gewicht zunehmen.
Eine Kastration macht nicht notwendig dick und faul - aber sie kann dazu
führen.
Frühkastration - ja oder nein?
Was spricht für die gegenwärtig zunehmende Praxis einer frühen
Kastration vor Eintritt der Geschlechtsreife? Die Frage ist schnell
beantwortet: Gar nichts - weder bei Rüden noch bei Hündinnen. Denn der
einzige Vorteil für die Hündinnen, der in der erwiesenen Reduktion des
Mammatumorrisikos besteht, wird angesichts der gegebenen
Wahrscheinlichkeit dieser Erkrankung und der möglichen Nachteile mehr
als aufgehoben. Und wer als Rüdenbesitzer glaubt, sein Rüde würde erst
gar kein "lästiges" Rüdenverhalten wie Markieren, Streunen, Besteigen
und Mackerverhalten gegen andere Rüden an den Tag legen, wenn er ihn
vor der Pubertät kastriert, dem ist zu sagen, dass dieser Glaube leider in
verschiedenen Studien widerlegt worden ist. Die Chance einer
Verhaltensänderung zum Positiven ist nicht vom Alter bei der Kastration
und der Dauer der gezeigten Verhaltensprobleme abhängig. Um diesen
Befund erklären zu können, muss man die im Vergleich zur Hündin anders
ablaufende hormonelle Entwicklung des Rüden berücksichtigen: Es ist
keineswegs so, dass Rüden eben in der Pubertät den entscheidenden
Testosteronschub bekommen, danach die oft unerwünschten männlichen
Verhaltensweisen entwickeln, woraus dann der Schluß gezogen wird, man
müsse den Rüden eben vor diesem Testosteronschub kastrieren, dann
entwickelten sich die Verhaltensweisen erst gar nicht so dramatisch.
Falsch! Entscheidender pränataler Hormonschub Zwischen der hormonellen Entwicklung von Hündinnen und Rüden gibt es einen zentralen Unterschied: Damit das Ungeborene sich zu einem weiblichen Tier entwickelt, bedarf es keiner vorgeburtlichen Bildung von ovariellen Hormonen. Die Ausprägung des Nervensystems hin zu einem weiblichen Wesen erfolgt sozusagen automatisch ohne Einwirkung von Geschlechtshormonen. Erfolgt kein Testosteronschub, entwickelt sich eine Hündin, erfolgt ein Testosteronschub, entwickelt sich ein Rüde. Nicht der Testosteronschub in der Pubertät gibt also den Anstoß für ihr Verhalten: Entscheidend ist der pränatale Hormonschub, der für die
"Maskulinisierung" des Gehirns verantwortlich ist. Rüden erhalten noch im Mutterleib und in den ersten Wochen nach der Geburt Ihren "Testosteronschub" der eben individuell unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die vorgeburtliche Testosteronstimulation bedingt die Empfänglichkeit bestimmter Organsysteme für Testosteroneinwirkungen nach Eintritt der Geschlechtsreife. Später einschießendes Testosteron scheint Verhaltensweisen höchstens mit zu aktivieren/intensivieren. Das erklärt nicht nur, warum auch nach der Kastration hormonbedingte Verhaltensweisen wie das typische Urinmarkieren und das Aufreiten bei der Hälfte der Rüden erhalten bleibt. Es erklärt ebenfalls warum auch vorpubertär kastrierte Rüden typische geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zeigen können, wie z. B.: Markieren mit erhobenem Hinterlauf, Imponiergehabe gegenüber anderen
Rüden, Besteigen, ja sogar Deckakte.Die Ergebnisse der Bielefelder Studie bestätigen andere Studien und zeigen zugleich: Negative Verhaltensänderungen wie —unsicher im Verhalten gegenüber Artgenossen —aggressiver gegen gleichgeschlechtliche Hunde —aggressiver gegen Hunde im allgemeinen, ja sogar Aggression gegenüber Fremden, werden am häufigsten von den Haltern solcher Hunde als Folgen beschrieben, welche im Alter von unter sechs Monaten kastriert worden sind. Hinsichtlich eines "besseren" Verhaltens bringt die frühe Kastration weder beim Rüden noch bei der Hündin Vorteile, sondern eher Nachteile. Und: Sie bringt Nachteile in bezug auf die körperliche Entwicklung mit sich. Kastration wegen Verhaltensproblemen?Generell ist zu sagen, dass eine Kastration aufgrund von Verhaltensproblemen natürlich nur in Bezug auf solche Verhaltensweisen sinnvoll sein kann, die über Geschlechtshormone beeinflusst werden. Bei den Rüden kann man diesbezüglich noch eher von klaren Einflüssen sprechen (alles, was direkt mit "Sex" zu tun hat, kann mittels Kastration beeinflusst werden), aber eben auch nur "kann". Was die Kastration als Mittel der Verhaltenstherapie bei Rüden angeht, so ist sie kein Allheilmittel für Verhaltensprobleme. Die Auswirkungen sind viel enger begrenzt als gemeinhin angenommen wird. Eine Kastration ersetzt nicht die richtige Sozialisation, Erziehung und verhaltensgerechte Haltung des Hundes. Sie ersetzt, wenn erst einmal Probleme aufgetreten sind, auch selten eine
Verhaltenstherapie. Sie kann sich aber im Einzelfall für das betreffende
Tier und dessen gesamte Umgebung sehr positiv auswirken, wenn sie
nach sorgfältiger Diagnoseerstellung erfolgt. Im Falle der Hündinnen ist lediglich eindeutig, dass die unmittelbar mit Läufigkeit und Trächtigkeit/Scheinschwangerschaft einhergehendenVerhaltensweisen geschlechtshormonbedingt sind. Aber: Es wird kontrovers diskutiert, ob der Einfluss des weiblichen Hormons Östrogen auf neurophysiologische Mechanismen, die die geschlechtsgebundenen Verhaltensweisen steuern, vergleichbar ist mit dem des männlichen Hormons Testosteron. Eine Kastration der Hündin zwecks Verhaltenstherapie hat nur Sinn bei übersteigert aggressivem Verhalten, das ausschließlich in der Zeit der Läufigkeit/der Scheinschwangerschaft auftritt. Ansonsten ist unter dem Verhaltensgesichtspunkt eine Kastration nicht nur anzuraten, sondern man muss wegen der Gefahr einer gesteigerten Aggression sogar abraten. Was die Aussagen zu Verhaltensveränderungen bei Hunden nach einer Kastration generell betrifft, so ist Studien zuzustimmen, wenn sie auf mögliche Placeboeffekte hinweisen: Wenn Hundehalter glauben, dass eine bestimmte Maßnahme bestimmte Auswirkungen hat, z. B. dass der Hund danach weniger
aggressiv sein soll, dann verhalten sie sich oft anders ihrem Hund
gegenüber. Und dieser veränderte Umgang des Halters mit seinem Hund
kann dann für die beobachteten Veränderungen verantwortlich gemacht
werden - nicht die Trainingsmethode, nicht der Wegfall der
Geschlechtshormone hat die Veränderung des Verhaltens verursacht, aber
der Halter glaubt daran. Und schließlich sind generell subjektive
Wahrnehmungen am Werke. Kastration - eine Routineangelegenheit?
Zwischen der Kastration von Rüden und Hündin bestehen relevante
Unterschiede, was den Operationsaufwand betrifft. Jener für den Rüden ist
wesentlich geringfügiger, bei der Kastration der Hündin handelt es sich um
eine Bauchoperation mit all ihren Gefahren wie Narkoserisiken,
Abwehrrisiken im Bereich der Ligaturen (Ansammlung von Lymphe und
Blut oder von Wundflüssigkeit), Fistelbildungen, Blutungen,
Nahtdehiszenzen (Auseinanderklaffen der Nähte), Seronbildungen
(Abschnürung von Blut- oder Lymphgefäßen), postoperative
Verwachsungen und Infektionen. Jeder Hündinnenbesitzer sollte in sich gehen und fragen, ob eine Vereinfachung der Haltung seiner Hündin es rechtfertigt, sie diesen Risiken auszusetzen bzw. ihr überhaupt Schmerzen zuzumuten. Wenn in einem Haushalt Rüde und Hündin zusammen leben und sporadische
Trennungen in Zeiten der Läufigkeit nicht möglich sind, spricht im Fall,
dass keiner der beiden Verhaltensauffälligkeiten zeigt, viele dafür,
aufgrund der geringeren Schwere des Eingriffs den Rüden zu kastrieren
und nicht die Hündin. Über Legalität und Illegalität der Kastration
Zum Schluss noch ein Hinweis: Die Kastration eines Hundes ist keine
Kleinigkeit, sondern gilt nach deutschem Tierschutzrecht als Amputation.
Eine Amputation kann man nicht einfach nach Lust und Laune
durchführen, sondern es bedarf einer medizinischen Indikation. Diese ist
selbstverständlich bei akuten Erkrankungen wie einer Gebärmutterentzündung oder Hodenkrebs gegeben. Frühkastrationen organisch gesunder Hunde kann man mit gutem Willen als gesundheitliche Vorsorge ansehen - zumindest so lange, wie mögliche gesundheitliche Negativwirkungen entweder nicht erforscht sind oder, was hier eher der Fall zu sein scheint zu wenig bekannt sind. Bedenkt man das Indikationsrisiko bei kastrierten Hündinnen jedweden
Alters, stellt sich aber die Frage, ob Kastration als reine
Prophylaxemaßnahme tatsächlich eine eindeutige medizinische Indikation
ist. Wenn man sich dann nochmals Zahlen von Studien vor Augen hält,
wonach ein Großteil der Rüden aufgrund von Verhaltensproblematiken
kastriert wird, so fragt man sich, wie es da um die Legalität bestellt ist.
Bedenkt man ferner, wie groß der Anteil der Hunde ist, die aus
Bequemlichkeitsgründen der Halter kastriert worden sind, so muss hier
klar festgehalten werden: Eine Erleichterung der Haltung allein ist kein
unerlässlicher Grund für eine Kastration. Ist der Anlass für eine Kastration
das Vermeiden von Nachwuchs oder Läufigkeit, so handelt es sich nicht
um eine medizinische Indikation, sondern nur um eine die Haltung des
Tieres erleichternde Maßnahme. Als Konsequenz müsste die Kastration in
diesem Fall abgelehnt werden. Handeln Tierärzte noch gemäß des geltenden Tierschutzrechtes, wenn sie Hündinnen kastrieren, weil den Haltern die Läufigkeit ihrer Hündin lästig ist, und wenn sie Rüden kastrieren, weil ihre Halter sie erzieherisch nicht in den Griff bekommen? Viele Hundehalter lassen - streng genommen - ihren Hund illegal kastrieren, was den meisten Hundehaltern aber nicht bewusst sein dürfte, da sie die entsprechenden Bestimmungen in der Regel kaum kennen und sich voll und ganz auf ihren Tierarzt verlassen. Der mag sich auf die Ausschlussklausel berufen, wonach eine Amputation zur Verhinderung unkontrollierter Fortpflanzung erlaubt ist. Nur: Wer allen Ernstes behauptet, dass eben diese unkontrollierbare
Fortpflanzung nur durch Kastration zu verhindern sei, der muss sich die
Frage gefallen lassen, wie viel er von Hundehaltung und Hundeverhalten
versteht. Wir haben es hier mit einer Grauzone zu tun, die offenbar nicht
weiter diskutiert wird. Selbst wenn man die Ausnahmeklause in von § 56
Tierschutzgesetz großzügig auslegen will und so die Kastration normaler
Haushunde in Familien als gedeckt ansieht - ein schaler Beigeschmack
bleibt.
Die Kastration bedeutet eine Amputation und steht, vom Gesetz
hergesehen, damit in einer Reihe mit dem Kupieren von Ohren und Ruten.
Die Rechtmäßigkeit von Kastrationen müssen im Einzelfall Gerichte
prüfen. Verwertbare Urteile dazu sind im Moment nicht bekannt.“

Dr. Gabriele Niepel, entnommen "Der Hund" vom 09.01.2003

 

Duell auf offener Straße Aggression an der Leine

Sie zerren wie verrückt, hängen in der Leine, erwürgen sich fast mit ihrem
eigenen Halsband, knurren, geifern, bellen: Hunde, die sich an der Leine
aggressiv gebärden, sind für viele Menschen ein großes Problem. Schnell
geraten der Hund und sein Mensch in einen Teufelskreis. Viele Versuche,
am Verhalten des Hundes etwas zu verändern, bewirken genau das
Gegenteil. Dabei muss der Hund noch nicht einmal ein wirkliches Problem
mit anderen Hunden haben. Im Freilauf häufig verträglich, empfindet er das
Sparring an der Leine als willkommene Trainingseinheit.
Und Action!
Mit dem Wetterbericht kommt die Angst. Jeden Abend, wenn der Nachrichtenabspann läuft, kriecht sie ihr schon in den Nacken. Angst vor 800 Metern. Angst vor der Abendrunde. Wer könnte jetzt noch mit seinem Hund unterwegs sein? Asco müsste schon wieder zuhause sein, aber Timmy und Max…..
Sie greift nach der Leine. Schäferhund-Mix Benno kennt das Geräusch und schießt aus seinem Korb, in dem er sie aufmerksam beobachtet, an die Tür. Startsignal für seinen großen Auftritt. Noch ein letztes Mal will er es heute allen zeigen: Er ist der König der Strasse.Sie fühlt sich ganz und gar nicht königlich und packt sicherheitshalber noch das Halti ein. Man weiß ja nie, was – oder besser wer – kommt. Besser auch noch den Ball mitnehmen. Vielleicht kann sie ihn ja diesmal damit ablenken. Und ein paar Leckerli werden auch noch eingepackt. Mit diesem ganzen Arsenal an „Wunderwaffen“ – in der
Hundeerziehung Hilfsmittel genannt- schleicht die Hundebesitzerin die Treppen herunter. Verkehrte Welt? Sollte sie nicht fröhlich und entspannt mit ihrem Hund die schöne Abendluft genießen können? Schließlich geht eine Menge Geld für allerfeinstes Hundefutter, Kauknochen und Spielzeug drauf, jede Tierarztrechnung wird bar bezahlt,sie geht mit Benno regelmäßig in eine Hundeschule und kann noch nicht einmal spazieren gehen, wann, wo und wie sie will. Vielen geht es so. Jeden Tag wagen sich Leute mit einem unguten Gefühl und ihrem Hund an der Leine auf die Straße. Schon die Minuten vor dem Gassi-Gang sind voller Anspannung. Das bleibt vom Hund nicht unbemerkt. „Kommunikation verläuft immer kreisförmig“ hat Paul Watzlawick in seinen Gesetzen der Kommunikation formuliert. Das heißt, dass die Reaktion des einen Kommunikationspartners auch gleichzeitig eine Aktion ist, auf die der andere wiederum reagiert. Oder übersetzt: Benno rechnet die Uhrzeit mit der Stimmung seiner Besitzerin zusammen und weiß, dass es nun hinaus geht. Durch ein schnelles und aufgeregtes Pendeln zwischen seinem Menschen und der
Haustür, versucht er den Start des Spazierganges zu beschleunigen.
Und: Benno hat natürlich mitbekommen (er hat ja sonst nichts zu tun), dass Ball undFutter beim Spaziergang dabei sind. Damit hat er jetzt schon zwei Gründe mehr, um mit durchgedrückten Beinen, erhobener Rute und geradem Rücken aus der Tür zu stürmen. Frei nach dem Motto: „mein Mensch, mein Futter, meine Beute“ kann für ihn der Reviergang beginnen. Er startet die Abendrunde mit stolz geschwellter Brust. Sie mit angestrengter Miene. Er zieht in eine Demonstration seiner eigenen Macht. Sie zieht in den Krieg.
Wettlauf der Sinne Während sie hektisch die Straße nach potentiellen Hunden und Haltern absucht, bringt sich Benno durch das Überpinkeln anderer Markierungen olfaktorisch ein. Für ihn eine geniale Arbeitsteilung. Sie arbeitet visuell und wird ihm sofort körpersprachlich signalisieren, ob ihnen ein anderer Hund entgegenkommt. Er dagegen kann sich auf die geruchliche Suche begeben und wird sich immer noch rechtzeitig genug in Position bringen.
Und da biegt er plötzlich um die Ecke, Bennos Erzfeind. Asco, dreijähriger
Rottweilerrüde, unkastriert, gleiches Alter, gleiches Kampfgewicht. „Wieso ist der denn um diese Zeit unterwegs“? fragt sie sich noch verzweifelt und schafft es nicht mehr, den anderen Weg einzuschlagen. Also Leine kurz nehmen und Benno mit einem „Fuß“ an die Seite holen. Schon weiß Benno Bescheid. „Leine kurz“ heißt: anderer Hund. Das Kommando „Fuß“ heißt: in meiner Kampfklasse. Benno ist in Bestform. Angespannt und mit einem festen Blick marschiert er geradewegs auf Asco zu. Dass bei ihr Atem- und Pulsfrequenz steigen, Schweißdrüsen ihre Arbeit aufnehmen und sie auch noch beruhigend auf ihn einredet, stachelt Benno nur noch mehr an. Denn für ihn ist jetzt
klar: Alarmstufe eins. Benno signalisiert ihr: „Das übernehme ich“ und schiebt sich an ihr nach vorne. In ihrem Ohr noch immer wie ein Echo die Stimme ihrer Hundetrainerin: „Entspannen Sie sich, sonst verstärken Sie auch noch sein Verhalten.“ Aber wie soll sie sich jetzt noch entspannen? Und wo ist eigentlich diese Hundetrainerin, wenn man sie braucht? Showdown Sie fummelt nervös an ihrer Tasche herum und versucht noch schnell, den Ball mit ins Spiel zu bringen. „Schau mal Benno, Dein Ball, ja – wo isser denn?“. Er scheint
beunruhigt. Wie kann sie jetzt, wo der andere Rüde kommt, mit unserer Beute
herumwedeln? Er versucht sich trotz Ball zu konzentrieren und beginnt den anderen Rüden zu fixieren. Sie weiß, was das heißt. Mit dem Tunnelblick eines Skispringers springt er kräftig in die Leine. Gerade noch rechtzeitig kann sie mit beiden Händen die Lederleine festhalten. Benno ist in seinem Element. Seine Besitzerin bangt darum, ihren Stand zu halten und blickt verzweifelt den anderen Hund an. Mit einem „Sitz“ versucht sie zu kontern, schickt ein
„Platz“ hinterher und ein lautes „Nein“. Alles vergebens. Benno steht auf beiden Hinterbeinen, hängt sich fast auf, während er mit hochgezogenen Lefzen den anderen Hund angeifert und sich darüber freut, dass seine Besitzerin sein Hobby teilt. Zu zweit pöbelt es sich einfach schöner. Der andere Hundehalter signalisiert unterdessen durch herablassendes Lächeln seine Überlegenheit. Er kann seinen Hund ohne Probleme halten, bringt als Mensch aber
auch locker dreißig Kilo mehr auf die Waage. Benno hingegen hat es schon einmal geschafft, sie über den Gehweg zu schleifen. Diesmal gelingt ihm das zwar nicht, fertig ist sie trotzdem. Als Asco samt Besitzer an ihnen vorbei sind, atmet Benno – inzwischen wieder auf allen vieren – den beiden noch einmal lautstark hinterher, schüttelt sich und rempelt in einem kurzen Sprung seine Besitzerin an. Er fühlt sich triumphal, sie fühlt sich miserabel. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel – das wissen beide. Noch dreihundert Meter Abendrunde. In vielen Fenstern geht das Licht aus. Benno hebt noch mehrmals das Bein, sie entspannt sich langsam. Eine letzte Straßenecke – es ist geschafft – niemand sonst ist noch unterwegs. Das nächste Mal, sagt sie sich, gehe ich nach dem Nachtmagazin. Dann sind die anderen bestimmt schon weg. Zuhause läuft
noch der Fernseher. Der Krimi hat begonnen. Ihr Krimi ist vorbei.

Autorin: Nadin Matthews
www.dogument.de

Auf der Jagd nach dem großen Gefühl Unerwünschtes Jagdverhalten

Waren Sie schon mal verliebt? Erinnern Sie sich an das Gefühl der
Euphorie? Wie Sie dämlich grinsend durch die Welt liefen, kaum essen
konnten, zu einem vernünftigen Gespräch nicht in der Lage waren,
dafür aber vor Energie fast geplatzt sind? Sie haben ihren Körper noch
nie in diesem Ausnahmezustand erlebt? Dann werden Sie auch nie
einen jagenden Hund verstehen!
Im Rausch
Jedes Mal, wenn Sie versuchen Ihre beste Freundin anzurufen, antwortet sie
mit hoffnungsvoller Stimme. Doch sie erwartet nicht Ihren Anruf, sondern den
eines anderen Menschen. Sobald klar ist, dass es „nur“ Sie sind, schleicht
sich eine kaum verhohlene Enttäuschung in ihre Stimme. Ihre Freundin ist
verliebt, ihr Fokus liegt jetzt ganz woanders. Essengehen mit ihr ist ein Ding
der Unmöglichkeit, sie bekommt keinen Bissen herunter. Themen, die sich
nicht um den von ihr begehrten Menschen drehen, sind völlig uninteressant.
Gemeinsame Pläne spielen keine Rolle mehr. Zu keinem klaren Gedanken
fähig, zu keiner Arbeit in der Lage, wartet sie nur auf den Moment, ihn
wiederzusehen. Ihr ganzer Körper spielt verrückt. Vorübergehende Verrücktheit Genau das ist es, was passiert, wenn Menschen sich verlieben. Eine
italienische Psychologin beschrieb das Verliebtsein einst als eine Form von
„vorübergehender Verrücktheit“: beim Anblick des geliebten Objekts weiten
sich die Pupillen, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Schuld
daran sind Hormone, in erster Linie der Botenstoff Dopamin. In den
Hirnregionen, in denen die Motivations- und Belohnungszentren liegen, steigt
der Spiegel des Dopamin stark an. Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder
Schlaf werden unterdrückt. Kein Wunder, dass manche Wissenschaftler die
Ansicht vertreten, „verliebte Menschen sollten krankgeschrieben werden“, weil
sie nicht mehr in der Lage sind, ihren Job ordentlich zu erledigen.
Hormoncocktail mit Suchtgefahr Und jetzt stellen Sie sich Ihren Hund vor, der gerade jagt. Taub für ihr Gebrüll, Gepfeife oder andere Versuche, ihn zu stoppen, rast er über das Feld, weil er am Waldrand ein Reh gesichtet hat. Dabei haben Sie doch alles gegeben: besser als jeder Windhund scannen Sie die Umgebung ein und lauschen auf jedes Knacken im Unterholz. An Stellen, an denen Ihnen schon einmal Wild über den Weg gelaufen ist, versuchen Sie über immer neue Suchspiele den Hund abzulenken. Sie rufen ihn häufig mit einem lockeren „Hier“ heran, um es nicht nur dann zu tun, wenn es eine schwierige Situation gibt. Das mit der Schleppleine haben Sie bereits aufgegeben, weil Sie sich vom letzten Jagdversuch ihres Hundes körperlich noch nicht vollständig erholt haben. Und dann kommt es doch: das Reh - und aus Ihrem „Hier“ wird ein
hektisches „HIIIIIIER“, woraufhin Ihr Hund direkt den Kopf hochreißt und beim
Erblicken des Rehs auch schon loshetzt. Die Disc-Scheiben in Ihrer zitternden
Hand erzielen diesmal sogar einen Körpertreffer. Doch als wäre er aus Stahl,
prallen die Scheiben am Hund ab. Selbst die sonst so geliebte Fleischwurst,
für die er normalerweise alles tut, halten Sie jetzt wie eine abgewiesene
Einladung in Ihrer Hand. Er hat sich entschieden: gegen die Wurst, für das
Reh. Während sie noch darüber nachdenken, was für ein treuloses Tier Sie
seit Jahren durchfüttern, sich ärgern, dass wir in Deutschland viel zu viel Wild haben, wütend am Wegesrand stehen und sich schwören, ihn ab morgen
(sollte er denn wiederkommen) nicht mehr abzuleinen, passiert im Körper
ihres Hundes etwas ganz anderes. Etwas, das dem Verliebtsein des
Menschen sehr ähnelt. Auch bei ihm wird ein Hormoncocktail ausgeschüttet,
der Suchtgefahr beinhaltet.
Unerreichbar dank Dopamin
Dieser Cocktail, bei dem auch wieder das Dopamin eine entscheidende Rolle
spielt, bewirkt ein Hochgefühl, körpereigene Opiate machen dabei
schmerzunempfindlich. Es ist ein Feuerwerk der Hormone und lässt den Hund
wie besessen erscheinen. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck
steigt, durch die Vergrößerung des Lungenvolumens und durch die starke
Durchblutung wird der Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgt, um die
maximale Leistungsfähigkeit zu erreichen. Nichts anderes mehr wahrnehmend,
erinnert selbst der Blick an den eines Verliebten.
Unterschiedlicher können die Empfindungen zwischen Hund und Halter in
diesem Moment nicht sein: der eine im Taumel der Glückseligkeit, der andere
voller Sorge. Denn Sie warten ja noch immer, er ist mittlerweile außer Sicht
und ausgerechnet jetzt hören Sie einen Schuss und das Quietschen von
Autoreifen. Von dieser Sorge getrieben senden Sie wie ein Radargerät alle
dreißig Sekunden ein „Hier“ als Information für den Hund, dass Sie noch da
sind. Falls er überhaupt irgendetwas hört, kann er sich sicher also sein, dass
Sie auf ihn warten. Einfach ins Auto steigen und wegfahren wäre sicherlich
sinnvoller, wenn da nicht die Straßen wären und die Angst, dass ihm etwas
passieren könnte. Menschen sind schlechte Jagdbegleiter
Minuten vergehen (gefühlt sind es Stunden) und dann sehen Sie ihn:
abgekämpft trabt er auf Sie zu, während Sie eine schnelle Gefühlswandlung
durchleben. Die Sorge weicht der Erleichterung, direkt gefolgt von Wut. Leider
sind Hunde sind neben ihren jagdlichen Fähigkeiten sehr talentiert im Deuten
menschlicher Körpersprache. Ihre hervorspringende Halsschlagader erkennt Ihr Hund auf mindestens fünfzehn Meter und antwortet mit Demutsverhalten. Auf den Brustwarzen kriechend und mit angelegten Ohren kommt er auf Sie zu.
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, er wüsste, dass er etwas falsch
gemacht hat. Eigentlich ist es aber nur ein Indiz dafür, dass er sich nicht
mehr im Jagen befindet, zur normalen Kommunikation fähig ist und dadurch
Ihre drohenden Signale richtig interpretiert. Ansonsten würde er wild hechelnd und mit leicht irrem Blick auf Sie zu und dann an Ihnen vorbeilaufen, um weiterzujagen. Sie konzentrieren sich ein letztes Mal und zwingen sich die
mittlerweile übel riechende Fleischwurst aus der Tasche zu ziehen, mit
zusammengepressten Zähne quetschen Sie sich ein „So ist fein“ heraus und
belohnen ihn für sein Zurückkommen. Warum auch immer, schließlich ist er
erst gekommen, als er fertig war und das nur, weil er nicht allein im Wald
leben möchte. Sie wundern sich, warum er Ihnen das immer wieder antut. Er
fragt sich, warum Sie sein Hobby nicht teilen. Nicht nur eine Frage der Erziehung Eventuell haben Sie trotz aller Wut auch Verständnis für Ihren jagenden Hund. Schließlich jagt er nicht, um Sie zu ärgern oder weil er Sie nicht ernst nimmt. Jagen ist nicht unbedingt ein soziales Problem und lässt auch keine Rückschlüsse auf die Erziehung zu. Da können Hunde noch so gut im Alltag kooperieren, stundenlang vor dem Supermarkt ohne Leine liegen und
warten, zuhause unauffällig und ruhig sein, mit Kindern lieb und auf dem
Agility-Platz ein As sein: wenn eine jagdliche Situation entsteht, läuft bei
manchen Vierbeinern das genetisch fixierte Programm ab. Hormongesteuert
sind sie gar nicht in der Lage, anders zu reagieren. Wissenschaftlich lässt
sich das ganz einfach erklären. Der körpereigene Cocktail versetzt den Hund
in eine geradezu zwanghafte Situation, hinterherhetzen zu müssen und
belohnt ihn mit einem rauschähnlichen Zustand. Aber man muss gar nicht
einmal die Wissenschaft bemühen, um das Verhalten ihres Hundes zu
erklären. Manchmal reicht es auch, einem von der Hatz gerade
zurückkehrenden Hund ins Gesicht zu schauen. Dieser Ausdruck in den
Augen, die langgezogenen Mundwinkel: das pure Glück schäumt Ihnen da
entgegen.
Auf der Jagd
Vielleicht hatten Sie ja schon ein- oder zweimal die Chance, das Reh früher
als ihr Hund zu sehen, ihn anzuleinen und damit das Schlimmste zu
verhindern. Doch das hechelnde Wesen am anderen Ende der Leine dann
noch dazu zu bringen, sich auf Sie zu konzentrieren und das Wild keines
Blickes zu würdigen, ist eine ganz andere Sache. Denn wenn ihn die Hormone
schon durchströmen, dann ist er für Ihre Anliegen kaum noch zugänglich.
Oder haben Sie mal versucht, einen verliebten Menschen von der
Notwendigkeit einer nur dreitägigen Reise zu überzeugen, die ihn oder sie
vierhundert Kilometer weg vom geliebten Objekt führen würde? Keines ihrer
Argumente, die teuren Stornokosten, die Vorfreude, die man monatelang über
das bald anstehende verlängerte Wochenende teilte, der Hinweis auf die
Freundschaft, die bei einer Absage schwer geschädigt werden würde…
Nichts wird den von Dopamin durchfluteten Menschen dazu bringen, doch
noch mitzufahren. Nicht einmal, wenn noch gar nicht klar ist, dass das
ganze ein glückliches Ende nehmen wird, der oder die Verliebte
möglicherweise drei Tage unverrichteter Dinge nur seine leere Mailbox
abhören kann, nichts wird ihn von der Nähe des begehrten Menschen
entfernen. Und nun erklären Sie ihrem Hund mal, dass das mit dem Reh
keine gute Idee ist. Dass es im Falle einer Hatz zwei Tage kein Futter und
fünf Tage keinen langen Spaziergang mehr gibt. All das wird ihn nicht vom
Jagen abhalten. Er kann nicht anders, er ist auf der Jagd, nicht nach
Nahrung, sondern nach dem großen Gefühl. So wie wir alle.
Leidenschaft lässt sich nicht abstellen Das ist der Grund dafür, dass die meisten Erziehungs- und Unterbrechungsmethoden bei einem jagenden Hund nicht dazu führen, dass er nicht mehr jagen will. Sie können niemanden ausreden, verliebt zu sein. Denn es ist keine vom Verstand zu steuernde Entscheidung, die da gefallen ist. Wir kriegen das Jagdverhalten nicht aus einem Hund heraus, schließlich haben wir es auch nicht hineingetan. Was bleibt, klingt nüchtern: Jagdverhalten lässt sich allenfalls kontrollieren, aber der Wunsch danach nicht abstellen. Realistisch ist der Anspruch auf Kontrolle über das Jagdverhalten, also ein lebenslanger Reibungsprozess mit dem Hund. Es wird ein Kampf gegen seine Genetik und gegen die Hormone bleiben. Und gerade die werden es Ihnen nicht leicht machen, mit einem Ruf noch in den Kopf Ihres Hundes zu kommen. Dazu gehört einiges an Vorarbeit, das Trainieren in realistischen Situationen und ein gutes Timing. Deshalb ein letzter Tipp:
Wenn Sie gerade selbst verliebt sind, lassen Sie Ihren jagenden Hund besser
an der Leine. Es sei denn, Sie haben es auf den Förster abgesehen.

Autorin: Nadin Matthews
www.dogument.de